Migration
Datum: 23.03.2018,
Kategorien:
Betagt,
... Untermieter
Wolfgang stand am Fenster und sah den drei Kids zu, die ausgelassen in seinem Garten spielten. Er lächelte. Kinder leben sich schnell ein, dachte er.
Der Junge und die beiden Mädchen waren die Kinder von Sengar und Djamila. Er hatte die syrische Flüchtlingsfamilie vor einigen Wochen in sein Haus als Untermieter aufgenommen. Untermieter war natürlich nicht ganz richtig, denn er bot ihnen den Wohnraum, ohne etwas dafür zu nehmen. Solange der Asylantrag lief, hatte Sengar keine Arbeitserlaubnis, und von der staatlichen Unterstützung konnten sie gerade das Nötigste bestreiten. Sie erhielten zwar in bescheidenem Umfang Wohnkostenerstattung, aber auch dieses Geld ließ er ihnen. Sie konnten es besser gebrauchen als er.
Wolfgang war seit drei Jahren Witwer. Das Haus war seit dem Tod seiner Frau zu groß für ihn. Die obere Etage ließ sich gut als eigene Wohnungseinheit verwenden. Ihm reichten die Räume im Erdgeschoss allemal. Da hatte es keiner langen Überlegung bedurft, einen Teil des Hauses als Flüchtlingsunterkunft anzubieten. Mit der fünfköpfigen Familie hatte er es gut getroffen. Die Eltern waren ordentliche ruhige Leute, mit den Kindern war endlich wieder Leben im Haus, und er hatte obendrein ein gutes Gefühl dabei. Das Leben des Mittfünfzigers hatte wieder mehr Sinn.
Leichtes Klopfen an der Tür. Auf sein „Herein" betrat Sengar das Zimmer und blieb zurückhaltend an der Tür stehen. Er war ein etwas untersetzter, stets freundlich blickender Mann Mitte ...
... dreißig, wirkte jedoch älter, was sowohl auf seine Herkunft als auch auf Entbehrungen und Sorgen im Zusammenhang mit der Flucht zurückzuführen sein mochte.
„Du bitte komm mit. Wollen reden." Sein Deutsch war noch sehr holprig, aber immerhin ausreichend, dass sie sich verständigen konnten.
„Was gibt es denn? Worüber möchtest du reden?", fragte Wolfgang.
„Miete. Geben für Wohnen", erklärte der Syrer.
„Nein Sengar, das haben wir doch schon geklärt", schüttelte Wolfgang den Kopf. „Ihr müsst nichts bezahlen. Ihr könnt hier wohnen, solange es nötig ist, und meinetwegen auch, solange ihr wollt. Ich will kein Geld von euch. Ihr braucht jeden Cent für eure Kinder."
„Nicht Geld, aber anders", beharrte Sengar. „Kein gut Gefühl, wenn alles nur schenken. Bitte komm mit."
Wolfgang glaubte zu verstehen. Sengar sah in Deutschland keineswegs, wie es manche Zeitgenossen gern propagierten, das Schlaraffenland, in dem er Anspruch auf eine komfortable Rundumversorgung hatte, die nichts kostete. Für den muslimischen Familienvater war es auf Dauer demütigend, verletzte seinen Stolz, ausschließlich auf Unterstützung angewiesen zu sein und keine Möglichkeit zu haben, selbst für seine Familie zu sorgen. Aber daran konnte so schnell niemand etwas ändern, Sengar musste Geduld haben. Wolfgang war stets bemüht, nicht den edlen Wohltäter herauszukehren, um Sengar nicht noch mehr zu beschämen.
„Gut, ich komme mit", stimmte er zu. Vielleicht wollte ihn die Familie ja anstelle einer Mietzahlung ...