1. Migration


    Datum: 23.03.2018, Kategorien: Betagt,

    1. Privatunterricht
    
    Herbert hatte sich gerade den Bademantel übergeworfen, als es läutete. Azad stand vor der Tür, zwei Stunden früher als üblich.
    
    „Du bist schon da?", fragte Herbert überrascht.
    
    „Ja, heute ist Unterricht ausgefallen", teilte der Besucher mit. Dann schien ihm Herberts Bekleidungszustand aufzufallen. „Ah, nicht gut gerade, gehe wieder?", schlug er vor.
    
    „Nein, nein, bleib mal da", entschied Herbert. „Das geht schon, du musst dich jetzt nur etwas gedulden, bis wir soweit sind. Du kannst dich so lange ins Wohnzimmer setzen."
    
    Herbert war auf dem Weg in die Sauna gewesen, die sie sich nach Beginn seines Ruhestands in ihren Kellerräumen hatten einbauen lassen. Marlene und er hatten es sich seitdem zur Gewohnheit gemacht, die Sauna immer regelmäßig am Spätnachmittag vor dem Abendessen aufzusuchen. Das war so etwas wie ein Symbol gemeinsamer Intimität, an dem sie gern festhielten. Schließlich gab es nach einer langen Ehe nicht mehr allzu viel, das man als Intimleben bezeichnen konnte. Sexuelle Gedanken etwa ließ natürlich auch der gemeinsame Saunagang nicht aufkommen, aber das tägliche Ritual gemeinsamer Nacktheit hatte immerhin etwas Verbindendes, etwas Privates, das sie miteinander teilten. In der Hauptsache allerdings verfolgten sie damit auch den Gedanken, ihrem Körper etwas Gutes zu tun.
    
    Dieser Tagesablauf hatte sich etwas geändert, seit Azad nahezu täglich bei ihnen zu Gast war. Der junge Iraker war Herbert aufgefallen, als er einmal wieder bei ...
    ... seiner alten Wirkungsstätte, der Schule, vorbeispaziert war. Die Turnhalle war als Übergangslösung zur Unterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert worden. Davor hielt sich eine Reihe von jungen Männern auf, die größtenteils mit ihren Smartphones beschäftigt waren. Wahrscheinlich stehen sie gerade in Kontakt mit ihren Familien in der Heimat, vermutete Herbert. Ein Mann jedoch saß abseits auf der niedrigen Mauer, die den Schulhof begrenzte, und war in das Lesen eines Buches vertieft. Als Herbert an ihm vorbeiging, erhob sich der Mann, den er auf höchstens dreißig Jahre schätzte, und sprach ihn an.
    
    Es stellte sich heraus, dass er intensiv am Erlernen der deutschen Sprache arbeitete und Gelegenheiten suchte, möglichst oft deutsch zu sprechen, um seine Kenntnisse zu verbessern. So viel Zielstrebigkeit beeindruckte Herbert, der sich zu Zeiten seiner Lehrertätigkeit eher mit dem Desinteresse vieler Schüler am Lernstoff hatte auseinandersetzen müssen. Außerdem weckte die äußere Erscheinung des jungen Mannes sein Mitgefühl. Er machte einen ausgemergelten, unterernährten Eindruck. Seine Jeans schlotterten geradezu um Hüften und Beine. Obwohl er nicht sonderlich klein war, konnte der Mann kaum mehr als 50 Kilo wiegen.
    
    So kam es, dass der ehemalige Lehrer beschloss, sich ein wenig um den jungen Mann zu kümmern, und ihn zu sich nach Hause einlud. Schließlich kannte er sich mit Unterrichten aus. Marlene, Herberts Frau, war erschüttert über den körperlichen Zustand des Flüchtlings. Sie ...
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