Der Paragrafenhengst - Von trabenden Fragen
Datum: 09.12.2017,
Kategorien:
Macht / Ohnmacht
... auch bei Kaffeefahrten Rheumadecken und Zaubersteine verkaufen.
Der Ausblick ist toll, wenngleich er nur die Balkons des gegenüberliegenden Wohnhauses zeigt. Aber angeblich hat sich auf einem diese Balkons schon eine Frau von zwei Männern ficken lassen. Vielleicht sollte ich das nächste Mal Popcorn mitbringen und ihn fragen, ob wir gemeinsam darauf warten.
Als er fertig ist, entschuldigt er sich nochmals und arbeitet konzentriert weiter. Ich weiß nicht, wie er so lange an einer halben Seite hängen kann – wir hatten alles besprochen und so viel habe ich nicht geändert – nur Fachtermini durch Worte ersetzt, die auch juristisch nicht geschulte Personen begreifen. Schließlich setze ich mich an den viel zu großen Tisch und blicke ihn direkt an. Meine Finger gleiten über die raue Oberfläche, aber das bringt auch nichts. Immer schweißiger werden meine Hände, langsam klopfe ich mit den Nägeln auf die Platte.
Schließlich blickt er nach oben und antwortet ernst:
„Hier fehlt ein Komma“
Tausend Gedanken prasseln meine Würde herunter. Ich hatte doch alles 1000 Mal durchgeguckt, sogar durch das Duden-Korrektur-Programm gejagt, mehrmals! Und ich habe ein gutes Gefühl für Sprache. Da kann gar kein Fehler drin sein! Oder sollte ich mich doch verguckt haben?
„Darf ich?“, frage ich und er reicht mir den Zettel.
„Hier“, er tapst mit dem Finger auf das Papier, „In diesen Satz muss ein Komma“
Konzentriert lese ich die Worte. Wieder und wieder. Bis ich zu dem Schluss ...
... komme:
„Da muss kein Komma rein. Das ist eine Kann-Reglung. Und ich finde nicht, dass es an diese Stelle passt.“, meine Stimme ist ruhig, aber etwas angegriffen.
„Der Satz sieht nicht richtig aus“, wendet er ein.
„Der Satz KLINGT nicht richtig, wenn das Komma drin steht“, erwidere ich. Zur Verdeutlichung lese ich ihm die Worte vor und hebe die Pause, die durch das Komma ausgelöst wird, besonders hervor.
„Der Satz sieht trotzdem nicht richtig aus, Frau Stele. Bitte ändern Sie das.“, der Ton wird lauter.
„Der Satz ist richtig so, wie er ist. Und mit einem Komma wäre er nicht falsch, aber er irritiert den Leser.“ Was glaubt er, wer er ist? Ich lese seit Jahren Korrektur – hält er sich für etwas Besseres, weil er studiert hat?
„Frau Stele, es geht hier nicht um solche Feinheiten. Bitte ändern Sie das!“, seine blau-grauen Augen blicken mich bedrohlich an, doch ich lasse mich nicht einschüchtern.
„Herr Haussmann, es geht darum, dass uns die Kunden besser verstehen. Und das tun sie!“, ich weiche keinen Millimeter zurück.
„Ich habe auch nicht den ganzen Text kritisiert, sondern nur das Komma. Den Rest können wir so lassen!“, obwohl sich unser Konflikt steigert, bleibt seine Stimme auf diesem Level.
„Dann kann das Komma auch draußen bleiben! Kein unnötiger Ballast!“, argumentiere ich auf Kindergartenniveau.
„Warum müssen Sie mir widersprechen? Können Sie sich nicht damit zufrieden geben?“
Fast unmerklich ist sein Kopf auf meine Seite gerutscht und er blickt ...