1. Nachmittag am Zwetschgenbaum


    Datum: 08.10.2018, Kategorien: An– und Ausgezogen,

    An einem Sommertage im August des Jahres 1904 brach der verwitwete Apotheker Heinrich Balthaus mit seinen fünf Töchtern zur Mittagszeit auf, einer alljährlich wiederkehrenden Gepflogenheit nachzukommen. Einst linderte seine bewährte Kräutertinktur das leidige Unwohlsein des Barons Woltershausen, worauf hin, ihm dieser in seinem Testamente mit einem Viertel eines Zwetschgenbaums bedachte. So bewältigte Herr Balthaus stets am zweiten Sonntage im achten Monat die Mühsal eines langen Fußweges, die Früchte seines Erbes den Zweigen zu entnehmen.
    
    Mit hellem Klicken schallten Absätze frisch geputzter schwarzer Schnürstiefel vom Kopfpflaster. Leichtfüßig, die Weidenkörbe schlenkernd, eilten seine Töchter dem Dorfe heraus. Die Rüschen und die bunten Bänder ihrer weißen Sommerkleider tanzten mit ihren ausgelassenen Bewegungen. „Ach Vater, wo bleibst Du?“
    
    Gemächlichen Schrittes folgte der Apotheker seinen Töchtern. Nicht mehr der Jüngste, war er bedacht, seine Kräfte einzuteilen. „Seid gesittet meine Töchter. Solcher Übermut geziemt sich nicht für junge Damen.“ Dem väterlichen Tadel folgend, reihten sich die Mädchen hinten an, doch sollte das rechte Maß an Ehrfurcht gegenüber der väterlichen Autorität nicht aufkommen. Es mochte der heiteren Stimmung des sonnigen Tages geschuldet sein. Verschmitzt grinsten sie sich in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit hinter seinem Rücken an.
    
    Schon verhieß die erste Wegbiegung den freien Atem der ursprünglichen Natur. Das Grau der ...
    ... Schieferdächer verschwamm, die festen Bande gesellschaftlicher Form lösten sich. Amalia, die Drittjüngste, öffnete einen Knopf ihres Kleides, griff hinein, und entnahm dem weißen Stoffe das heimliche Geschenk des Kommerzienrates Degenhard, eine Panflöte. Herr Balthaus besah die Keckheit seiner Tochter mit Argwohn, fürchtete er doch den ungünstigen Einfluss der neuzeitlichen lebensreformerischen Ansichten des Schokoladenfabrikanten, und suchte dessen Umgang mit seinen nicht gefestigten Mädchen zu unterbinden. Im Grunde vom weichem Gemüt, hatte es der Apotheker gleichwohl nicht über sein Herz gebracht, das Holzgebinde dem geliebten Kinde zu entziehen.
    
    Schon entlockten die gespitzten Lippen der Panflöte ungestüm fröhliche Laute, befrischten den Überschwang der Töchter, die, ihre Strohhüte haltend, vor dem Vater her rannten. Der ließ sie gewähren. Ermattete ihn doch jetzt schon zu sehr der Brand der mittäglichen Sonne, als dass er die erforderliche Kraft für eine sittliche Anleitung aufzubringen vermochte.
    
    Beim Ende des Anweges zeigte die Taschenuhr an des Apothekers Weste bereits die dritte Stunde. Im engen Tal, vom Grün der umgebenen Hügel verhüllt, öffnete sich nun ihm und seinen Töchtern die Obstwiese in menschenleerer Stille. Ihres Viertels Zwetschgenbaum fanden sie in bunten Bändern. Stets hatte der garstige Bauer in den Jahren zuvor dem Einholen der Zwetschgen eifersüchtig beigewohnt. Diesen Sonntag sollte ihm die Hochzeit seines Schwagers hindern. So zeigten nun blaue Bänder die ...
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