1. Schwesternliebe


    Datum: 11.09.2017, Kategorien: Romane und Kurzromane,

    ... öfter zu Streitereien. Ich war der Meinung, sie sollte sich zurückhaltender und ihrem Alter angemessener anziehen, sie hingegen wollte sich zeigen, bewundert und angestarrt werden.
    
    "Ach Dicke," nannte sie mich oft abfällig, „Sei nicht so streng mit mir! Wenn die Typen auf mich abfahren, ist vieles so leicht. Ich spring doch nicht mit jedem von denen
    
    gleich in die Kiste, ist doch nur Spaß, wie ein Spiel!"
    
    Aber dieses „Spiel" blieb leider nur für eine gewisse Zeit ein Spaß.
    
    In den Monaten, als unsere Mutter ihre letzten Hirnzellen versoff und eines Tages nicht wieder aus der Klinik entlassen wurde, sondern an multiplem Organversagen starb, entwickelte Nadja einen geradezu unangenehm ausgeprägten Hang zu nuttiger Kleidung. Die Ausschnitte ihrer T-Shirts wurden tiefer, die Absätze ihrer Schuhe höher. Die Jeans waren so eng, dass ich mich gelegentlich frage, wie sie diese Dinger noch über die Hüften bekam. Sie liebte Hotpants und Miniröcke, hautenge Stretchkleider und Korsagen.
    
    An ihrem 18. Geburtstag feierte sie eine 24stündige Non-Stop-Party zu der ich nicht mal eingeladen war. Immer öfter kam sie erst tief in der Nacht nach Hause, war betrunken oder bekifft, stank nach Schweiß und den Ausdünstungen von Bars, Discotheken und Männern.
    
    In diesen Nächten bekam ich vor Sorge kein Auge zu, schlaflos wälzte ich mich voller Sorge in meinem Bett hin und her.
    
    Aber auch andere Probleme begannen sich aufzutun.
    
    Eines Tages klingelte ein wütender Nachbar an ...
    ... unserer Tür und zerrte mich am Ärmel nach unten auf den Hof, wo die Autos der Anwohner geparkt wurden. Mitten auf der Motorhaube seines drei Jahre alten Renault Megane klaffte in wirklich tiefen Kratzern das Wort „Arsch". Es brauchte nicht lange, um mir begreiflich zu machen, dass Nadja in der letzten Nacht mit betrunkenem Kopf Scheiße gebaut hatte ... wirkliche Scheiße ... teure Scheiße! Selbstverständlich kam ich für den finanziellen Schaden auf und entschuldigte mich bei dem aufgebrachten Mann mit einem dicken Blumenstrauß. Naddel hatte wie so oft keine Lust, diese versöhnliche Geste selbst auf die Reihe zu kriegen.
    
    Auch der Polizei bleib Nadja im Laufe der Jahre keine Unbekannte. Es begann vergleichsweise harmlos mit kleinen Diebstählen im Supermarkt. Hier eine Flasche Schnaps, dort eine Tafel Schokolade.
    
    Es brachte nichts, wenn ich sie zu den Aussprachen mit den Marktleitern mitschleppte oder ihr die Mitarbeiter des Jugendamtes fast schon verzweifelt klar machen wollten, dass sie sich bereits mit einer Spirale nach unten, in die Bodenlosigkeit der Asozialität umgeben hatte.
    
    Meine kleine Schwester nahm nichts wahr, wollte nicht nachdenken. Alles was sie augenscheinlich vom Leben erwartete, spielte sich auf der Straße, in Discotheken, Spielhallen oder den Betten unzähliger Kerle ab.
    
    Die Streitigkeiten nahmen zu, wurden immer heftiger und irgendwann war der Punkt erreicht, an dem ich so nicht weiter machen wollte.
    
    Ich hatte keine Kraft mehr, keinen Atem, keine ...
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