1. Der Paragrafenhengst - Von trabenden Fragen


    Datum: 09.12.2017, Kategorien: Macht / Ohnmacht

    ... zunimmt, mache ich mich auf den Weg und hole Mittagessen. Der Supermarkt hat erst vor kurzem eröffnet und trotzdem kenne ich von der solarium-alten Verkäuferin bis zum normal-hübschen Azubi alle Mitarbeiter. Ob sie mich vermissen, wenn ich nicht mehr da bin? Das kleine Mädchen, das auch im Winter in Ballerinas kommt und nur eine Zeitung und ein Fertiggericht kauft?
    
    Die Gespräche mit den Kollegen sind normal wie immer. Irgendwas zwischen Schweigen, peinlichen Geständnissen und Reiseberichten. Aber es geht mir besser. Je näher das Ende rückt, desto mehr kann man sich trauen – keiner wird sich an die missglückten Kommunikationsversuche einer Gestorbenen erinnern. Und schlimmer als die Azubine, die beim Schäferstündchen im Aktenraum erwischt wurde, kann es mich nicht treffen.
    
    Der Nachmittag verläuft ruhig. Das Suppenkoma hält sich bis in die Abendstunden, der Schleier der abnehmenden Leistungsfähigkeit wird nur vom Rattern der Stechuhr unterbrochen. Menschen gehen und gehen. Nur mein Kollege und ich bleiben da. Wie die letzten Passagiere der Titanic. Er ist der Kapitän, ich der Leiter des Bord-Orchesters, der selbst die Flucht der Todgeweihten musikalisch untermalt. Hesilot habe ich ihn genannt, weil er immer alles erledigen will und das sofort. Andere würden ihn Arbeitstier nennen. Hesilot hält mich davon ab, in das typische Tief zu fallen, das alle befällt, die schon vorher nichts zu tun hatten und nun noch mehr spüren, dass sie nicht gebraucht werden. Ich werde ...
    ... gebraucht. McJury braucht eine Rose.
    
    Der Abend Mrs. Steles hat keine Bedeutung. Werbepausen zwischen schlechten Fernsehfilmen reihen sich aneinander wie Perlen aus chinesischen Fabriken. Das gelbe Licht der Wohnzimmerlampe nervt und macht jeden Zeichenversuch zunichte. Ich esse und warte auf morgen.
    
    Es geht mir gut. Die Straßenbahn kommt pünktlich und bis auf ein paar Schweißausbrüche geht es mir gut. Manchmal wundert es mich, dass nur wenige Menschen immer mit MEINER Bahn fahren; meistens ändern sich die Passagiere täglich. Heutzutage sind die Bahnen so eng getaktet, dass man immer einen Zug später nehmen kann. Obwohl alles durchgeplant ist, sind viele Dinge furchtbar spontan. Der Spalt zwischen Just-in-time und Faulsein vergrößert sich. Routiniert krame ich den Taschenspiegel hervor und ziehe die Lippen nach. In diesem Moment fährt die Bahn um eine Kurve und ich rutzsche ab. Manche Dinge ändern sich nie.
    
    Auf Arbeit angekommen betätigte ich die Stechuhr und koche Tee. Wie froh bin ich, wenn ich nicht mehr den hässlichen Wasserkocher mit der kaputten Klappe benutzen werde! Nachdem ich und mein Computer hochgefahren sind, reicht mir Hesilot einen Stapel Unterlagen und umreißt kurz, was getan werden muss. Wir plaudern über die neusten Rundmails und er bringt mich auf den aktuellen Stand des Flurfunks. Das Leben anderer Leute ist interessanter als jede Daily-Soap. Minuten vergehen. Ich halte mich am Frühstück fest und wechsle zwischen Tee und Kaffeetasse hin und her. Nervosität ...
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