Die halbe Wahrheit
Datum: 14.04.2020,
Kategorien:
Erotische Verbindungen
Phil war pubertierende fünfzehn als sein Vater mich ihm vorstellte. Seine Mutter war gestorben als Phil neun war. Ich war das Schlimmste, das er sich vorstellen konnte. Der fleischgewordene Hochverrat an dem Menschen, den er am meisten vermisste.
Es war nicht so, dass ich mir Ulf an Land gezogen hatte. Wir waren eine dieser über drei Freundesecken verkuppelten Unwahrscheinlichkeiten, die dann doch aufgehen. Ein paar Abende, ein paar Gläser Wein, ein paar nette Gespräche, ein erster Abend zu zweit, ein zweiter in meinem Bett. Keine peinliche Teenagerliebe, keine stürmischen Küsse, eher aufrichtige und beiderseitige Liebe.
Unser Kennenlernen ist jetzt vier Jahre her, seit zwei Jahren ist Ulf wieder mehr auf Montage. Phil hat sich nicht nur an mich gewöhnt, wir haben sogar ein paar Gemeinsamkeiten entdeckt. Mindestens eine davon halte ich als Illusion mühsam am Leben.
Phil sitzt auf der Couch, hält sein Rotweinglas umklammert und sieht fasziniert zu, wie die eindeutig Guten den eindeutig Bösen „die Fresse polieren", wie er es ausdrückt. Vorher war das andersrum, aber innerhalb von belanglosen fünfzehn Minuten hat sich das Blatt gewendet. Absolut überraschender Verlauf der brillanten Storyline. Nicht einmal nach dem dritten Rotwein.
Ich frage mich, warum mir nach zu viel Wein immer die Tränen in die Augen steigen, wenn ich an Ulf und mich denke. Vielleicht liegt es an mir, dass er mich nicht sofort bespringt, wenn er von der Montage zurückkehrt. Vielleicht muss ich ...
... ihm einfach mehr bieten. Eine Idee, die auch mindestens drei Gläser braucht, um sich auch nur halbwegs vernünftig anzuhören.
Werbepause. Phil steht auf, sieht auf mein Glas und hält mir seine Hand hin.
„Auch noch eins?"
„Klar, danke." Meine Stimme klingt, wie ich mich fühle.
„Alles okay?"
„Ja, klar." Ich bin eine miserable Lügnerin und ein die meiste Zeit unreflektierter Haufen Elend.
„Weinst du?"
Jetzt ja. Danke dafür. „Schon gut, ist nichts, hab ich schon mal."
Er nickt, glaubt mir offenkundig kein Wort, zieht aber ab.
Phil kommt mit zwei Eimern Wein wieder. Sie sind aus Glas, fassen wie die, die er mitgenommen hat, einen halben Liter und sind, anders als die von mir eingeschenkten, randvoll.
„Willst du mich abfüllen?", frage ich mit echtem Entsetzen. Meine Stimmung ist vergessen, für geniale drei Sekunden.
„Nein, ertränken."
Ich grinse, wenn auch nur kurz.
„Ich renn' doch nicht dauernd in die Küche. Außerdem, wenn du mir so erzählst, was los ist ..."
Ich atme tief durch, weil das heute schon der zweite Moment ist, in dem er mich durch so gut wie nichts fast zum Heulen gebracht hat.
„Ach, albern eigentlich", ich proste ihm zu und nehme einen großen, Mut machenden Schluck, „ich denke an alte Zeiten, wobei damit ganze zwei Jahre gemeint sind."
„Gut, da habe ich immerhin schon gelebt."
Ich boxe ihn in die Seite, er ignoriert das und grinst.
„Gott, ist das peinlich", winde ich mich, aber es muss raus, das weiß ich selbst am ...