1. Marionette


    Datum: 29.03.2020, Kategorien: Schamsituation

    ... vermisste. Bevor die Überlegung abgeschlossen war, war meist das nächste Treffen schon geplant.
    
    Vor sechs Wochen hatten wir uns zum letzten Mal in seiner Wohnung getroffen. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie er mich damals direkt an der - noch geöffneten - Türe schnell und routiniert auszog, während ich ängstlich über die Schulter lauerte, welche Nachbarn wohl Zeugen dieses Spiels wurden.
    
    Und jetzt die Studiobühne!
    
    Ganz in Gedanken fuhr ich nach Hause und legte mich in die Badewanne. wo ich prompt einschlief und erst vom erkaltenden Wasser wieder geweckt wurde. Ein Blick auf die Uhr und ein lautloser Schrei des Erschreckens: Es war schon halb acht, ich musste mich sputen. Vor dem Kleiderschrank dachte ich an die Nachricht. Kleidung beliebig - das konnte er haben! Ein blütenweißer bequemer, aber unerotischer Slip, ein Sport- BH, ein weißes Unterhemd (es war kalt draußen), Wollsocken, die verschlissenen Jeans, in denen ich letzte Woche die Küche angemalt hatte, ein dicker weiter Pullover, Boots mit langen Schnürsenkeln (sollte er sich doch anstrengen!), und ein dicker Regenanorak. Keine Schminke. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel - da fehlte noch das Tüpfelchen auf dem i. Kurzentschlossen schlang ich mir ein Tuch um den Kopf, das jeder Basarverkäuferin in Istanbul Ehre gemacht hätte. Dann hetzte ich aus der Wohnung und fuhr zum Theater.
    
    Tim musste mich kommen gesehen haben, denn während ich einparke, entsteigt er seinem Wagen und kommt auf mich ...
    ... zu. Ein flüchtiger Kuss auf die Wangen. Während wir zum Eingang der Studiobühne gehen, erklärt er mir das Szenario des Abends.
    
    "Wir machen heute Improvisationstheater."
    
    "Wir?"
    
    "Ja, Du wirst sehen, es wird Dir gefallen. Hübsches Outfit, übrigens.", setzt er mit Lächeln hinzu.
    
    Er schließt die Tür auf - woher hat er nur den Schlüssel? - und zieht mich durch einen engen dunklen Gang. Er bleibt stehen und macht sich an einem Kasten in der Wand zu schaffen. Nach einigen Augenblicken wird es hell. Wir passieren einige Räume, bis wir plötzlich auf der Bühne stehen. Ich blicke hoch und bestaune die oben an Schnüren hängenden Kulissen. Die Bühne ist in schummriges Licht getaucht; schwarze Samtbahnen an den Wänden schlucken fast alle Helligkeit.
    
    "Stelle Dich bitte in die Mitte der Bühne - genau hier hin", zeigt mir Tim. "Und bleibe unbeweglich stehen. Ich muss noch etwas erledigen." Ich folge seinem Wunsch, während er sich durch den Mittelgang zwischen den Zuschauersitzen entfernt. Seine Schritte werden leiser. Mich fröstelt. Plötzlich flammt hinten oben ein großer Scheinwerfer auf, der mich blendet, sodass ich die Hände vor die Augen hebe. Nach einigen Sekunden blinzele ich vorsichtig und versuche, mich an das Licht zu gewöhnen. Ich blicke an mir herunter und überlege, dass der rosafarbene Anorak überhaupt nicht zum grünen Kopftuch passt. Vielleicht hätte ich mich doch etwas mehr mit Bedacht kleiden sollen. Aber schon kommt Tim wieder zurück. Erst als er in den Lichtkegel ...
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