1. Marionette


    Datum: 29.03.2020, Kategorien: Schamsituation

    "Wie altmodisch", dachte ich, während ich den Zettel entfaltete, den Tim mir auf dem Büroflur im Vorbeigehen zugesteckt hatte. Alle Welt schreibt SMS, Emails, benutzt Whatsapp. Wann hatte ich zuletzt etwas Handschriftliches bekommen? Sicher: Als ich die Sehnsucht entdeckte, hatte ich oft von einem handgeschriebenen Liebesbrief geträumt. Aber meine Wünsche blieben unerfüllt: Datings, aber auch das unvermeidliche Schluss machen wurden auf elektronischem Weg erledigt. Also hatte ich mich dem Zeitgeist angepasst. Und jetzt schrieb mir Tim - sogar mit richtiger Tinte und auf Büttenpapier, wie ich beim Auffalten feststellte! Der Inhalt war in seltsamem Kontrast zur Form längst vergangener Zeiten eher nüchtern:
    
    "Komme bitte heute Abend um 20:00 zum kleinen Theater. Kleidung beliebig."
    
    Das kleine Theater war früher die Studiobühne des Schauspielhauses; kleiner als der große Saal, nur knapp 100 Personen konnte das Gestühl aufnehmen. Hier wurden Ein- Personen- Stücke aufgeführt, auch das Experimentaltheater junger Autoren hatte hier eine Chance. Doch vor 5 Jahren fiel das gemütliche, leicht plüschige Theater dem Spardiktat des Stadtkämmerers zum Opfer. In regelmäßigen Abständen griff die Lokalpresse das Schicksal der Studiobühne auf, spekulierte über neue Nutzungsmöglichkeiten, vom Cabaret bis zum Spielort für Laienschauspieler. Doch keiner der Pläne wurde verwirklicht, da kein kostendeckender Betrieb garantiert werden konnte.
    
    Tim - was um alles in der Welt hatte er vor? ...
    ... Just zu dem Zeitpunkt, als die Studiobühne geschlossen wurde, hatte ich eine kurze, aber heiße Affäre mit ihm. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, zu welcher ehrlicher und wilder Leidenschaft dieser Mann imstande war. Tim, der trockene Sachbearbeiter, der sein Brot mit dem Bearbeiten langweiliger Versicherungsakten verdiente und der für seine schlechten Witze berüchtigt war, entpuppte sich als begehrender und perfekter Liebhaber. Er drängte nicht, ließ sich viel Zeit, inszenierte unsere Treffen mit viel Fantasie und stets überraschend. In seinen Armen schmolz ich dahin. Er wusste, wo er mich lustvoll berühren musste, wann eine Verzögerung angebracht war, um den Höhepunkt hinauszuzögern, wann Härte, wann Sanftheit angebracht war. Kurzum, ich war im Himmel mit ihm.
    
    Leider musste ich schon nach einigen Wochen feststellen, dass er seine Liebesgaben diskret, aber verschwenderisch verteilte. Als mir die achte Kollegin - im Vertrauen - von seinen vorzüglichen Liebesdiensten berichtete, hatte ich genug und machte Schluss. Und doch konnte ich nicht ganz von ihm lassen; wenn er - selten, aber regelmäßig - um ein Treffen bat, brachte ich es nicht übers Herz, nein zu sagen. Das Wort Liebe nahmen wir nicht mehr in den Mund, es ging in stillem Einverständnis nur um Sex. Da ich an meiner Karriere arbeitete, wollte ich so bald keine dauerhafte Beziehung mehr eingehen - und so genoss ich die Treffen mit ihm. Hatte er ein paar Wochen nicht angerufen, begann ich mich zu fragen, ob ich ihn ...
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