1. Mutterliebe


    Datum: 25.03.2020, Kategorien: Sonstige,

    ... einer Kommilitonin etwas über Folterungen im Sudan und die schwierigen Arbeitsbedingungen dort für Mitarbeiter von ai. Ich würde lügen, wenn ich erklärte, dieser Ausführungen wegen stehen geblieben zu sein. Es war mehr die Person, die mein Interesse weckte. Diese Entschlossenheit ohne falschen Eifer, dieser Einsatz ohne Vorbehalt und heuchlerische Rücksichtnahme machte Sandra für mich sofort attraktiv. Dabei war ihr Äußeres eher unauffällig. Von anderen Studentinnen hob sie sich vor allem dadurch ab, dass sie vollkommen ungeschminkt war. Auch auf besonderen modischen Auftritt legte sie augenscheinlich keinen gesteigerten Wert. Sandra zeigte ein rundliches Gesicht mit dunkelblonden mittellangen, leicht strähnigen Haaren. Bei jedem neuen ihrer Argumente fielen ihr einige Haarsträhnen über das Gesicht, so dass sie unermüdlich damit beschäftigt war, die Haarpracht vom Gesichtsfeld nach hinten weg zu streichen. Die äußere Form ihrer Jeans sowie des ausgeleierten Pullovers ließen erahnen, dass Sandra eher mollig war.
    
    Aber dies bemerkte ich erst, als ich mich von ihr ins Gespräch hatte ziehen lassen. Sie muss gut eine viertel Stunde mit mehr oder weniger große Emphase auf mich eingeredet haben. Ich habe nur Bruchstücke ihrer Rede wahrgenommen, so sehr war ich vertieft in die Beobachtung ihrer Gestik und ihrer Körpersprache. Ihre Stimme hatte nichts Durchdringendes oder Herrisches an sich. Sie war sachlich korrekt, aber mit einem gefühlvollen Timbre versehen. Dies war es wohl ...
    ... auch, weshalb ich mich kaum von ihr lösen konnte. Sandra zog mich ganz in ihren Bann. Und ich konnte sie auch in der folgenden Zeit nicht vergessen. Diese kleine unscheinbare Person hatte mein Interesse jenseits aller politischen Inhalte geweckt. Nach einem kurzen hastigen Rundgang vorbei an Essens-Ständen und durch das Dickicht der politischen Informationen entschloss ich mich, sie nochmals aufzusuchen und entschied mich dort spontan, eigentlich ohne innere Überzeugung zur Mitarbeit bei ai, nur um Sandra wiedersehen zu können.
    
    So wurde ich nolens volens zum Mitstreiter von amnesty international. Da ich zunächst weniger an der Sache, mehr an Sandra Interesse hatte, nahm ich möglichst an allen denjenigen Gruppensitzungen teil, die auch sie besuchte. Für mich brachte dies nicht unerhebliche Änderungen meines gewohnten Tagesablaufs mit sich. An langes Schlafen bis zur Mittagszeit oder gar an gammelige Wochenenden und Abende war nun nicht mehr zu denken. Immer gab es ein Meeting oder war eine Aktion vorzubereiten. Und dann durfte ich meinen bevorstehenden Studienabschluss nicht vergessen. In der Rückschau denke ich, dass es diese unerwartete Änderung meines Tagesrhythmus' war, die mir die nötige Kraft und Konzentration für die anstehende Vorbereitungszeit gegeben hat. Erstmals lernte ich Disziplin und - wie man heute sagt - organisiertes Zeitmanagement. So widersprüchlich es klingen mag: Das Weniger an Zeit für das Studium führte zu intensiver Beschäftigung mit dem Prüfungsstoff ...
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