1. Nacktes Gretchen (Teil 1)


    Datum: 14.10.2018, Kategorien: Kunst,

    ... Schauspieldirektor bot mir einen Cognac an, den ich glatt annahm und hinunterkippte. Dass ich so ein Getränk zu mir nahm, war echt eine Seltenheit, doch als ich nun die Gewissheit hatte, dass ich das nackte Gretchen sein werde, hätte ich am liebsten losgeheult, aber diese Blöße gab ich mir nicht.
    
    Ein paar Tage später erhielt ich das Textbuch und zu aller erst suchte ich die Passage mit der besagten Nacktszene heraus. Diese Passage war im ersten Akt zu finden und schien ziemlich lang zu sein. Gleich zu Beginn meines Auftrittes werde ich mich ausziehen müssen, und zwar vollständig. Ich ging die ganze Szene durch und sah dabei auf die Uhr, wie lange das ganze wohl dauern würde. Ich kam auf 17 Minuten! Das war verdammt lang! Ob ich das wohl aushalten werde? Da jedes Stück so um die 45 mal gespielt wird, bedeutet das, dass ich rund 13 Stunden lang nackt auf der Bühne verbringen werde. Und da der Zuschauerraum rund 700 Plätze umfasst, werden mich zusammengezählt etwa 30.000 Personen nackt sehen! Und mir war auch klar, dass wohl auch sehr viele Verwandte, Bekannte und Freunde diese Vorstellung besuchen würden. Alle, die mich bisher immer nur angezogen gesehen haben, würden mich nun vollkommen nackt sehen. Anders ausgedrückt: Wer mich nackt sehen will, braucht sich bloß eine Theaterkarte zu kaufen. Dieser Gedanke entsetzte mich und ich war einige Tage lang total traumatisiert. Erst nach und nach nahm meine Panik ab und ich machte mich langsam mit dem Gedanken vertraut, diese ...
    ... Rolle tatsächlich zu spielen.
    
    In der nächsten Zeit war ich damit beschäftigt, meinen Text zu lernen, was mir aber recht leicht fiel, denn ich habe ja ein gutes Gedächtnis. Aber beim Einstudieren musste ich ständig daran denken, dass ich dabei splitternackt sein werde, wenn ich meinen Text aufsage. Es wird das erste Mal sein, dass ich bei der Widergabe eines Textes nichts am Körper haben werde. Hunderte Augenpaare werden auf mich gerichtet sein und jeder im Zuschauerraum wird meinen Körper bis ins letzte Detail betrachten können! Jede Stelle meines Körpers wird öffentlich zu sehen sein. Je mehr ich daran dachte, desto beschämter fühlte ich mich. Seit dem ich in der Pubertät war, haben mich nicht einmal meine Eltern so gesehen und nun werden mich Tausende Leute vollständig entblößt sehen. Während der Einstudierung des Textes war ich regelrecht in Trance, denn der Gedanke an diese bevorstehende öffentliche Nacktheit wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl ich ja bei mir zu Hause im Wohnzimmer saß, schämte ich mich bei jedem Wort, das ich auswendig zu lernen hatte. Wie wird das wohl sein, wenn ich auf der Bühne stehe und alle Blicke auf meinen Körper gerichtet sein werden?
    
    Im November begannen dann die Proben, wobei ich dabei angezogen bleiben durfte. Mein Schauspielkollege Viktor spielte die Rolle des Schlomo. Viktor, er ist mit seinen 55 Jahren fast doppelt so alt wie ich, war mir immer schon sehr sympathisch. Deshalb war ich froh, dass gerade er den Schlomo ...