1. Le Mystère d'André


    Datum: 13.10.2018, Kategorien: Bisexuell,

    ... gebrochener Stimme, "geh!" Ein letzter Blick verriet mir, wie überaus ernst ihm diese Forderung war, während ich mich zwingen musste, meine Hand nicht nach der zerbrechlichen Gestalt vor mir auszustrecken, um sie zu trösten. Doch es gab nichts, was ich hätte tun können -im Gegenteil, es hätte alles nur noch viel schlimmer gemacht. So rückte ich ohne ein Wort des Abschieds von ihm ab und wandelte wie eine leere Hülle über den Gang. Ein fast nicht wahrnehmbares: "Pass auf dich auf, ma chére..." voller Sanftmut, ließ mich für einen kurzen Augenblick schmerzlich aufhorchen. Ohne mich umzudrehen, hielt ich inne. Nachdem jedoch keine weitere Reaktion folgte, führte mich mein Weg schweren Herzens weiter Richtung Normalität. Aber würde es je eine Normalität nach dieser Nacht für mich geben?
    
    Die U-Bahn war voller als erwartet um diese Uhrzeit und einige hatten sich in die Waggons gedrängt, als gäbe es dort etwas umsonst. Zum Glück hatten wir trotzdem nach kurzer Suche zwei freie Plätze ausfindig machen können, wo ich nun den in Papier eingepackten Gegenstand aus meiner Hosentasche nachdenklich zwischen den Händen drehte, während meine Begleiterin einmal mehr anfing, ihren verbalen Wasserfall über mich zu auszuschütten. Ich hatte ihr nicht viel erzählen können, aus Angst in Tränen auszubrechen, wenn ich über André sprach. Um nun einer weiteren Diskussion oder Fragen aus dem Weg zu gehen, fixierte ich die Stelle zwischen ihren Augenbrauen und nickte von Zeit zu Zeit verständig, ohne ...
    ... jedoch auch nur einen blassen Schimmer von dem zu haben, was mir berichtet wurde. Es machte ohnehin keinen Unterschied, denn sie gestikulierte wild mit ihren Händen und war in einen Dialog verfallen, den sie vor allem mit sich selbst führte. Meine Gedanken schweiften ab, während ich meine Finger so behutsam über die Erhebung des Papiers gleiten ließ, als wolle ich sie streicheln. Was für eine eigenartige Begegnung ich nur gemacht hatte! André war so anders als die Menschen, die ich kannte, und hatte mir eine seltsam anmutende Art des Liebens gezeigt, an die ich vorher nicht einmal gedacht hatte. Könnte ich diese Lust womöglich auch an einem anderen Ort befriedigen? Ich wechselte mit meinem Blick zu Ninas Ohrring und dachte an kurze Röcke, Schminke, lackierte Nägel, mädchenhaftes Gegackere und übertriebene Emotionsausbrüche... Nein, dies war eindeutig nicht meine Welt! Weder konnte ich mich darin wiederfinden, noch fand ich Derartiges in irgendeiner Weise betörend. André war das genaue Gegenteil davon gewesen aber er war auch keine Frau. Ich erwischte mich dabei, wie ich ein wenig bedauerte, dass er nicht einfach eine Frau war. Denn dies hätte geheißen, ich könnte unter den vielen tausend Frauen einfach irgendeine finden, die dieselbe Leidenschaft teilte und mit ihr glücklich werden. Doch André war ein androgynes Einzelstück gewesen, jemanden wie ihn gab es nicht zu Tausenden auf der Straße, was gleichbedeutend bezeichnete, dass ich höchstwahrscheinlich niemals wieder auf eine ...