1. Ausweglos - Teil 1


    Datum: 21.09.2018, Kategorien: Macht / Ohnmacht

    Der Traum
    
    „Hier kommt die geile Chantalle“ – unsere fraglos heißeste Schnalle und bewegt richtig schnell, für Euch ihr unvergleichliches Gestell!“ Schweißgebadet sitze ich im Bett. Da war er wieder – mein Alptraum, der mich seit nunmehr 20 Jahren, neun Monaten und zwei Tagen begleitet. Zugegeben, er kommt seltener, mittlerweile viel seltener. Hatte ich anfangs keine ruhige Nacht, sind es jetzt oft mehrere ungestörte Wochen. Aber dann ist er wieder da. Wie heute. Und ich kann nichts dagegen tun. Ich kann mir nicht erklären warum. Nach all der Zeit und in voller Intensität. „Hier kommt die geile Chantalle“ – unsere fraglos heißeste Schnalle und bewegt richtig schnell, für Euch ihr unvergleichliches Gestell!“ Weinend presse ich mir die Hände auf die Ohren und langsam wird die lautsprecherknarzende Stimme in meinem Kopf, die in Endlosschleife den primitiv zusammengezimmerten Reim herunterspult, leiser. Wie lange werde ich Ruhe haben, vielleicht bis in den Dezember? Der Januar ist erfahrungsgemäß am schlimmsten. Der Tag vor 20 Jahren, neun Monaten und zwei Tagen war der 4. Januar. Und schon in der Weihnachtszeit und an Silvester und Neujahr schießen die Gedankenblitze durch meinen Kopf: „Hier kommt die geile Chantalle ….“.
    
    Mein Blick streift den Wecker – 04:22 Uhr. Ich werfe die leichte Sommerdecke vom Bett, gehe in die Küche und trinke ein Glas Wasser. Das leichte Perlen in meiner Kehle tut gut, „kühlt mich herunter“. Erfahrungsgemäß sind dies die Minuten, die ich nach dem ...
    ... Traum brauche, um wieder in den Normalzustand zu kommen. Schon bevor ich den Wasserhahn der Dusche aufdrehe sind meine Gedanken wieder im Januar.
    
    Anja
    
    Das Wasser prasselt mit ebensolcher Intensität auf meinen Körper, wie die Gedanken an den Januar vor nunmehr bald 21 Jahren in meinem Kopf hämmern. Anja, eine entfernte Freundin, wenn man das überhaupt so bezeichnen kann, hatte mich nach langem Reden überzeugt.
    
    Anders als viele in unserem Semester schien sie keine Geldsorgen zu haben. Dies war umso erstaunlicher, da Sie ihre ohnehin in einfachen Verhältnissen lebenden Eltern bei einem Autounfall verloren hatte und offenbar nur von einem wenn auch etwas höherem BAFÖG lebte. Aber sie fuhr einen blendend gelben Fiat Uno Sport, bewohnte eine kleine Wohnung nahe der Uni und war stets außergewöhnlich gut gekleidet. Sie hatte viele „Freundinnen“, obwohl viele sie nur umschwirrten, um nahezu neue Jeans, Kleider, Röcke und Tops zu ergattern, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – stets nur wenige Wochen in Anjas Kleiderschrank hingen und schnell neuen Modellen Platz machen mussten. Zu diesem Kreis gehörte ich nicht. Vielmehr waren wir gemeinsam aus dem von Fontane in seinen „Wanderungen“ begeistert beschriebenen beschaulichen Rheinsberg an die altehrwürdige Berliner Humboldt-Universität gekommen. An der EOS, der „Erweiterten Oberschule“, hatten wir als Klassenbeste das Abitur gemacht –jeweils als „Leuchttürme“ der beiden Parallelklassen.
    
    Es mag Leute geben, die dachten, ich ...
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