1. Im Zwinger


    Datum: 03.10.2017, Kategorien: Medien,

    Eine Mauer zu errichten ist ganz einfach. Man braucht dazu nur Wasser, Mörtel und Zeit. Der Mörtel wird mit dem Wasser zu einer dickflüssigen Masse verrührt und auf die Steine aufgetragen. Dann schichtet man diese gemischt versetzt aufeinander und wartet, bis das Bindemittel in einer endothermen Reaktion alle großen und kleinen Steinchen gebunden hat. Danach ist sie fertig.
    
    Niemand hatte vor eine Mauer zu errichten. Aber der Architekt hat das so gewollt. Deswegen ist der Nymphenbrunnen von einer Mauer umstellt wie ein Krimineller. Zu erreichen über vier Eingänge, von Norden, Süden, Ost und Westen; prächtige Rundbögen, verziert mit Allegorien der Vier Jahreszeiten; von oben sichtbar für jedermann über eben diese Mauern, die sich als Teile der umliegenden Gebäude entpuppen. Wie ein Tier im Käfig fühlt man sich, sitzt man am Brunnen und lauscht den betörenden Gesängen der Najaden. Oder beschützt. Denn keiner macht sich die Mühe, seinen Blick von der goldenen Hauptattraktion abzuwenden und die labyrinthartigen Wege auf sich zu nehmen. Nur gucken, nicht reingehen.
    
    Der Mann im Osten steht immer noch da. Nervös tippelt er von einem Fuß auf den anderen, läuft manchmal auch umher, um sich dann wieder fast schwerfällig gegen das Massiv fallen zu lassen. Der korpulente Mann mit den kurzen braunen Haaren und dem festen Gang steht schon seit einer halben Stunde da. Er muss gekommen sein, bevor ich den Raum betrat. Er hat mich gemustert, wie jeden, der zum Brunnen ging – das ...
    ... küssende Pärchen und die Frau mit Kinderwagen, drei japanische Touristen sowie ein Kleinkind, das mit seiner Mutter um das Wasserspiel rannte. Ein langer Blick von oben nach unten, zum Schluss in die Augen, den ich freundlich, aber irgendwie beschämt erwidere. Ich bin nicht die Gesuchte. Es knistert. Irgendwas liegt in der Luft, es riecht nach dem Regen, der vor einer Weile niedergeprasselt ist, und es riecht nach Sommer. Und etwas anderem. Ich wollte eigentlich nur durch die Gänge schlendern und erkunden, was ich noch nicht kenne. Aber nun bleibe ich im Südportal stehen, halb entdeckt, halb versteckt, und warte.
    
    Der Mann fährt sich durch die Haare. Er trägt ein hellblaues Hemd, Jeans und braune Lederschuhe. Sein Gang wird immer gehetzter, manchmal muss er sich sogar den Schweiß von seiner Stirn tupfen. Doch nichts passiert. Die Abendsonne brennt auf uns nieder und lässt das Wasser orange glitzern. Es ist wunderschön hier.
    
    Dann endlich regt er sich. Eine Frau im geblümten Sommerkleid stackselt auf ihren schwarzen Highheels durch das Nordportal einmal
    
    um den Brunnen herum, bevor sie sich auf dessen Rand setzt. Nervös kramt sie in ihrer Shopper und fischt schließlich ein Smartphone heraus. Während sie routiniert darauf herumtippt, fährt sie sich durch die hellbraunen langen Haare und blickt sich um. Sie erinnert mich an ein Reh, das auf den Jäger wartet und nicht weiß, ob er es tötet oder doch mit nach Hause nimmt. Vielleicht ist sie auch Rotkäppchen, das nicht weiß, ob sich ...
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