1. Weeslower Chroniken Teil 1 - Nadine - 1997


    Datum: 24.03.2018, Kategorien: Kunst,

    ... umarmten sich zum Abschied vor dem Gartentor ihres Elternhauses, wo er sie auf dem Weg nach Hause von der Schulparty vorbei gebracht hatte. Abschied für immer. Er ging fort zu seiner neuen Stelle irgendwo weit weg im anderen Teil von Brandenburg. Sie hatten sich umarmt, eine Weile wehmütig in die Augen geschaut - und leider nicht geküsst, obwohl sie es sich so herbeigewünscht hatte. Aber natürlich hatte er das nicht getan, auch wenn er von diesem Moment an nicht mehr ihr Lehrer war. Sie war schließlich erst sechzehn, und er mit neunundzwanzig frisch gebackener Lehrer. Aushilfslehrer, genauer gesagt, für das eine vergangene Halbjahr. Das bei Nadine jedoch einen sehr nachdrücklichen Eindruck hinterlassen hatte.
    
    Sie hatte plötzlich das Gefühl, jetzt noch spüren zu können, wie seine Hand über ihren Rücken hinweg auf ihren Po gewandert war, wie angenehm es in ihrem Bauch kribbelte, als sie sich an ihn schmiegte.
    
    Sie hatte ihn nur in der Theater-AG als Lehrer, einmal pro Woche. Doch er hatte sie vom ersten Moment an tief beeindruckt: fast zwei Meter groß, muskulös, männlich, sportlich, dynamisch, ein leidenschaftlicher Kraftsportler. Nadine kam sich neben ihm nicht nur allzu jung und unerwachsen, sondern trotz ihrer einen Meter siebzig Körpergröße auch recht klein vor. Kaum, dass sie in den insgesamt zehn Mal neunzig Minuten bei ihm allzuviel vom Unterricht mitbekommen hätte. So sehr sie es versucht hatte, an seinen Lippen hing, sie nahm kaum etwas auf. Sie war verliebt, ...
    ... hoffnungslos verliebt. Zum ersten Mal. Er war wunderbar. Wunderbar witzig, wunderbar geistreich, wunderbar charmant. Wunderbar anzuschauen.
    
    Da Nadine jedoch ohnehin als etwas verträumt und mitunter abwesend galt - wieso nur hatte ausgerechnet sie, die so Introvertierte, Stille sich für die Theater-AG angemeldet, fragten sich viele - fiel kaum jemand ihre heimliche Schwärmerei auf.
    
    Doch nachts träumte sie von ihm, tags dachte sie an ihn, zu jeder Zeit, an jedem Ort.
    
    Während der dritten AG-Stunde machte Nadine eine seltsame und einschneidende Entdeckung. Die AG wurde fand immer im Gemeinschaftsraum der neben der Schule liegenden Kirchengemeinde statt, da sich dort eine Art Bühne befand. Sie war nach einem Gang zur Toilette während einer Pause versehentlich in die falsche Richtung im Flur abgebogen und bemerkte erst, als sie die Tür schon geöffnet hatte, dass sie in seiner Wohnung stand. Einen kurzen Moment hatte sie gezögert. Aber Schneider hatte angekündigt, dass die Pause womöglich etwas länger dauere, da er kurz hinüber zur Schulleitung musste. Die anderen saßen alle im Gemeindehaus, niemand würde sie entdecken. Ihre Neugierde siegte, sie trat ganz in den Raum hinein und sah sich um. Am meisten interessierten sie die Fotos an der Pinnwand neben dem Bett.
    
    Und darauf war ganz oft Michael Schneider zu sehen - und zwar vollkommen nackt. Nackt an einem Strand, nackt vor einem Zelt, nackt mit einem hübschen jungen, vielleicht achtzehnjährigen, ebenfalls nackten Mädchen auf ...
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