1. Weeslower Chroniken Teil 1 - Nadine - 1997


    Datum: 24.03.2018, Kategorien: Kunst,

    "Nadinchen! Aufwachen!"
    
    Die Vorhänge wurden zurückgezogen, sofort überfluteten helle Sonnenstrahlen das Zimmer und das Bett, auf dem ein junges Mädchen schlief.
    
    "Oh Mum, nicht jetzt schon..."
    
    "Aber es ist schon elf Uhr! Wir wollen zum Mittag zu Oma."
    
    "Ja ja, ich weiß. Ich komm schon..."
    
    Auf dem Bauch liegend begann sich das Mädchen auf dem Bett zu bewegen, dann wohlig zu strecken. Das leichte Laken lag neben dem Bett auf der Erde.
    
    "Wann bist Du denn nach Hause gekommen? Ich habe bis um eins auf Dich gewartet. Aber dann muss ich doch eingeschlafen sein."
    
    Die siebzehnjährige Tochter drehte sich der Mutter zu. "Habe ich gemerkt. Ich hab mich ganz vorsichtig nach oben reingeschlichen, um Dich nicht zu wecken."
    
    "Und wann war das nun?"
    
    "Ich weiß nicht mehr genau, ich glaube, es war vier. Oder fünf."
    
    "Was? So spät? Wie bist Du denn dann nach Hause gekommen? Doch nicht mit Dori?"
    
    "Nein, mit Michael."
    
    "Aber..."
    
    "Nein, nein, keine Sorge." Das Mädchen, das nur einen knappen weißen Slip trug, richtete sich auf, streckte sich erneut und wuschelte sich dann mit den Händen durch die langen, völlig zerzausten dunklen Haare, die sie zuletzt mit einer schnellen Bewegung über die Stirn hinweg aus dem Gesicht strich. "Alles so wie immer. Wir sind nicht wieder zusammen. Er hat mich nur nach Hause gefahren. Und danach noch zwei andere Jungs abgesetzt."
    
    "War er nüchtern?"
    
    "Ja. Er trinkt nicht mehr. Keinen Tropfen."
    
    Nadines Mutter drohte mit dem ...
    ... Finger. "Aber Du hattest mir versprochen, ein Uhr, keine Minute länger!"
    
    "Ach Mum!" Nadine kniete sich auf das Bett und setzte ihren bezauberndsten Vergib-mir-Blick auf. "Es war echt cool auf der Party, und alle meine Freunde sind auch noch so lange da gewesen. Nur Dori halt nicht. Ich versprech´ Dir, ich pass auf mich auf, ich mach´ keine dummen Sachen."
    
    "Glaub ich ja. Und dennoch... So, jetzt komm, mache Dich fertig. Willst Du noch was zum Frühstück."
    
    "Ja, gern. Müsli, okay?"
    
    "Dann komm aber schnell. - Ach, was ich Dir erzählen wollte: Ich soll Dich grüßen - von Deinem Lehrer Schneider."
    
    Nadines Miene erstarrte für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick, dann fand sie ihr Lächeln wieder. "Ach so?" meinte sie bemüht teilnahmslos.
    
    "Ich habe ihn gestern Abend vor dem Pfarrhaus getroffen. Er hat dort Dorothea besucht. Er hat mich gleich erkannt und nach Dir gefragt."
    
    "Und was hast Du ihm erzählt?"
    
    "Na, was schon? Dass es Dir gut geht, Du gut in der Schule bist, nächstes Jahr Abi machst, all das. Und er fragte, ob Du immer noch so ein bildhübsches Mädchen bist. Na klar, meinte ich, noch viel hübscher sogar..."
    
    Mit diesen Worten verschwand ihre Mutter, und Nadine sah ihr nachdenklich hinterher.
    
    Nun stand Nadine jenes letzte Mal, als sie ihn, diesen Lehrer Schneider, gesehen hatte, wieder ganz deutlich vor Augen. Es war fast genau ein Jahr her, der letzte Schultag vor den großen Sommerferien. Es war spät am Abend gewesen, sie leicht beschwipst, er auch, sie ...
«1234...57»