1. Das Date


    Datum: 27.08.2020, Kategorien: Macht / Ohnmacht

    Im Zug fühle ich mich immer ein wenig unbehaglich. Die Fahrgeräusche sind einfach so unangenehm laut. Wenn der Zug gefüllt ist, riecht man nicht gerade die schönen Seiten der Menschen. Sei´s drum. Endlich geht’s wieder ans Meer. Ich liebe das Salz und den Wind.
    
    Der Zug hält. Niemand ist während der Fahrt an mir vorbei gegangen. Der vom nuschelnden Bahnmitarbeiter genannte Ortsname ist mir auch nicht geläufig. Wir sind wohl an einer kleinen Station. Ich höre Schritte. Stöckelschuhe und etwas tapsig. Schätzungsweise fünfzig bis sechzig Kilogramm. Sie geht an mir vorbei. Der Vanilleduft ist angenehm. Leider etwas zu viel um ihren persönlichen Körpergeruch wahrzunehmen. Der der dumpfe Klang von „Numb“ zieht von rechts nach links an mir vorbei. Wer Linkin Park hört, muss Geschmack haben.
    
    Ein Sitz vor mir knarrt ein wenig und Schritte sind nicht mehr zu hören. Sie sitzt in der mir gegenüberliegenden Viererreihe auf der anderen Seite. Der Zug fährt an und Sie verschwimmt wieder vor meinem geistigen Auge. Wer Sie wohl ist und was Sie macht? Ob Sie mich wahrnimmt? Ich achte darauf, gerade zu sitzen und anmutig zu wirken. Schließlich weiß ich nicht, ob Sie mich beobachtet.
    
    Ein Telefon aus ihrer Richtung klingelt. Sie geht ran. Nette junge Stimme. Sie scheint maximal dreißig zu sein. Das Gespräch ist nicht sonderlich spannend. Ihre Stimmenlage klingt so, als ob Sie Begeisterung für irgendetwas vorfloskelt. Keine Informationen zu Ihr. Schade drum.
    
    Ich höre die Seiten ...
    ... eines Buches. Sie scheint sich Lektüre vorzunehmen. Ein komisches Klicken ist ebenfalls zu hören. Ein Brillenetui? Wenn Sie die hypothetische Brille nur für ihr Buch rausholt, ist Sie weitsichtig. Angesichts ihres wahrscheinlichen Alters eine ungewöhnliche Kombination. Ich höre ein Reißen. Der eklig beißende Geruch von Zitrone macht sich in meiner Nase breit. Eine Chance originell in ein Gespräch zu kommen.
    
    „Wenn Sie diese Brillenputztücher häufiger verwenden, könnte sich wohlmöglich die Entspiegelung ihrer Brille ablösen.“
    
    Ich nehme ein leichtes Kichern wahr. Sie findet es witzig diesen Tipp gerade von mir zu erhalten, hält es aber scheinbar nicht politisch korrekt darüber zu lachen. Grundsätzlich sympathisch.
    
    „Das ist nur eine Fünf-Euro-Brille aus dem Edeka. Die hat so etwas nicht. Selbst wenn kann ich mir ja einfach eine Neue kaufen.“
    
    „Na dann bin ich beruhigt. Was lesen Sie denn?“
    
    „Todesregen heißt das Buch.“
    
    Na ein Glück. Koontz und nicht James oder Rowling. Die Kleine würde ich gern kennenlernen.
    
    „Okay. Dean Koontz lese ich auch ab und an mal. Das Buch kenne ich aber nicht. Was ist der Grund ihrer Reise? Geht es in den Urlaub?“
    
    „Ja. Ein verlängertes Wochenende.“
    
    „So ganz alleine?“
    
    „Ja. Ich mag es die Ruhe zu genießen.“
    
    „Okay. Wenn Sie Interesse haben, würde ich Sie gern mal zum Essen in meinen Strandhäuschen in Heringsdorf einladen. Hier ist meine Karte. Rufen Sie bei Interesse mal durch.“
    
    „Vielleicht mache ich das. Ich muss hier raus. ...
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