1. Das Weinbacher Kaiserfest - Kapitel II


    Datum: 15.07.2020, Kategorien: CMNF

    ... fünfzehn, nicht wahr?”
    
    “Sechzehn, schon seit Dreikönig”, antwortete Anna. Der Schreiber musterte auch sie eingehend, behandelte sie aber bei weitem nicht so unsanft wie ihre kleine Schwester. Er strich ihr eine Haarlocke aus dem Gesicht und streichelte mit den Fingerrücken über ihr Gesicht bis hinunter zu ihrem Hals. Aus den Augenwinkeln konnte Anna erkennen, dass auch der junge Pikenier sie wieder ansah. Er wirkt gar nicht soldatisch, dachte sie, eher ein bisschen verträumt.
    
    “Ah… Sechzehn. Nun, das ist besser. Viel besser. Hat Dein Vater denn schon einen Gemahl für Dich ausersehen?”
    
    “Nein”, antwortete ihr Vater an ihrer Statt. “Sie kann so bald nicht heiraten. Nicht, solange Otto noch so klein ist. Ihre Mutter ist…” Der Satz blieb ihm im Halse stecken. Vier Jahre waren es nun schon, seit sein gutes Weib, die Mutter seiner Kinder, vom himmlischen Vater abberufen worden war, aber es fiel ihm noch immer schwer, auch nur an sie zu denken.
    
    “Nun, wie dem auch sei, Müller”, sagte der Schreiber. “Es ist gut, dass sie noch nicht gebunden ist, denn ich denke, sie kommt in Frage. Der Rat wird sie jedenfalls begutachten wollen, und sollte sie auserwählt werden, so wird es Dein Schaden nicht sein.” Er machte eine Notiz auf seiner Pergamentrolle und fügte hinzu: “Natürlich muss ich sie, um eine endgültige Empfehlung aussprechen zu können, ohne ihr Gewand sehen.”
    
    Annas Vater schnappte nach Luft. “Ihr müsst was, Herr?”
    
    “Nun, lieber Müller”, sagte der Schreiber, “ihr denkt ...
    ... doch wohl nicht, dass der Rat die Jungfern in Kartoffelsäcken präsentieren will?” Er deutete auf Annas einfachen Kittel aus grober Wolle. “Ich muss mir nun einmal ein genaues Bild machen. Ich kann die Zeit des Rats schließlich nicht mit Mädchen verschwenden, die sich als schmerbäuchig oder in anderer Weise unansehnlich erweisen. Also, bittesehr, zieh Dich schon aus, meine Kleine.”
    
    Anna zögerte. Sie badete nackend im Fluss, seit sie klein war, aber in letzter Zeit ermahnte sie ihr Vater immer wieder, sich wenigstens dann zu bedecken, wenn die Jungen vom Auwiesenhof oder die Söhne des Schmieds herüberkamen. Sie war kein Mädchen mehr, sagte er immer wieder, sondern eine junge Frau, und junge Frauen sollten sich nicht aller Welt zur Schau stellen. Natürlich hielt sie sich nicht immer daran. Schließlich sah sie am Flussufer ja auch nicht alle Welt, sondern nur ihre Freunde aus dem Dorf. Aber sich vor dem glatzköpfigen Schreiber zu entblößen fühlte sich irgendwie falsch an. Und da war ja auch noch der junge Pikenier… Ihr Bauch kribbelte seltsam bei dem Gedanken, nackend vor diesem hübschen Jüngling stehen zu müssen. Sie sah ihren Vater fragend an, und ihr Vater sah abwechselnd sie und den Schreiber an und wirkte etwas ratlos.
    
    “Versteh einer euch Herren”, sagte er. “Der Pfaffe predigt von morgens bis abends von Keuschheit und weiß nichts wichtigeres, als dass die Mädchen immer recht züchtig gekleidet sind, und dann sollen sie für euch grad so aus dem Gewand springen als ob’s ...
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