1. Judith


    Datum: 24.04.2020, Kategorien: Erotische Verbindungen

    ... größere Kreuzung, an welcher die zwei größten Durchfahrtsstraßen der Stadt aufeinander trafen. Die Untersuchung hatte ergeben, dass sein Vater mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf die Kreuzung zugefahren war. Vermutlich hatte er die rote Ampel viel zu spät gesehen. Trotz einer Vollbremsung war er in die Kreuzung hineingeschlittert. In neun von zehn Fällen wäre die Sache glimpflich verlaufen, doch just in diesem Moment näherte sich von links ein Geländewagen, der ebenfalls zu schnell unterwegs war. Er rammte das Auto von Leos Vater genau an der Fahrerseite. Dieser hatte keine Chance.
    
    Leo erinnerte sich an die düsteren und stumpfen Wochen und Monate danach. Wie unter einer Schneedecke hatte er diese Zeit erlebt. Er erinnerte sich, wie plötzlich die Polizei vor ihrem Haus auftauchte. An die vielen Verwandten, die auf einmal da waren. An die zahlreichen mitleidigen Blicke. An die Beileidsbekundungen seiner Lehrer und Mitschüler. An die Berichte in der Lokal- und Regionalpresse. Sogar einen Spendenaufruf hatte es gegeben. Am deutlichsten stand ihm jedoch der starre, müde Blick seiner Mutter vor Augen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte. An den ersten Tagen konnte sie nicht weinen. Sie starrte nur vor sich hin und erledigte mechanisch, was zu erledigen war. Erst später kamen die Tränen und die vielen Fragen nach dem Warum. Die dringlichste davon lautete: Warum hatte sein Vater, der so ein umsichtiger Autofahrer war -- erst am Tag zuvor hatte er den langen Heimweg ...
    ... aus Österreich trotz schlechten Wetters mühelos bewältigt -- warum hatte sein Vater auf dem kurzen Weg zu seinem Fitness-Studio derartig leichtsinnig sein Leben riskiert und letztlich verloren?
    
    Soeben gab ihm Judith mit tränenerstickter Stimme die Antwort. „Das blinde Verlangen trieb ihn dazu. Dein Vater war in Gedanken bereits bei mir, als ihm das passierte. Deshalb fühle ich mich bis heute schuldig an seinem Tod." Dann heulte sie hemmungslos. Auch Leo war den Tränen nahe, aber er konnte noch nicht weinen. Zuerst musste er Judiths Geschichte zu Ende hören.
    
    „Erzähl weiter!" forderte er.
    
    Judith schnäuzte sich. „Ich wartete und wartete. Entgegen alle Vereinbarungen rief ich ihn auf seinem Handy an, aber niemand meldete sich. Ich wusste sofort, dass etwas passiert sein musste. Schließlich verlor ich den Kopf und raste nach Frankfurt zurück. Die ganze Nacht lag ich wach. Als mir mein Mann am nächsten Tag mitteilte, dass sein Cousin Martin bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, wollte ich sterben. Als ich die näheren Umstände des Unfalls erfuhr, war ich fest entschlossen, mich umzubringen."
    
    „Warum hast du es nicht getan?" fragte Leo mit harter Stimme.
    
    „Ich glaube, ich war einfach zu feig dafür. Aber glaub mir, innerlich war ich tot. Seelisch und körperlich. Ich bekam schwere Migräneanfälle, lag tagelang nur im Bett und heulte vor mich hin. Zur Beerdigung fuhr Wolfgang allein. Ich hätte es ohnehin nicht ertragen, deine Mutter und dich zu sehen. ...
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