Transsib (1-3)
Datum: 27.12.2019,
Kategorien:
Macht / Ohnmacht
... Veronika zu gönnen, einmal richtig in den Senkel gestellt zu werden, und beginnen zu spekulieren, was wohl mit mir geschehen werde, bis ich sie anfauche, sie sollen endlich ruhig sein. Lieber würde ich im Abteil bleiben. Aber der Stolz lässt mir solches nicht zu.
So begebe ich mich um 17.45 Uhr auf den Weg zur Zugsspitze, wo der Gepäckwa-gen fährt. Der Weg ist mühsam. Immer wieder muss ich über Koffer Taschen und auch Menschen klettern, die im Gang stehen und liegen und keinen Platz in den Ab-teilen gefunden haben. Ein Mann fragt mich neugierig, ob allenfalls ich den Gepäck-wagen suche. Ich verstehe den Sinn der Frage nicht. Um 18.03 Uhr erreiche ich endlich den Gepäckwagen, wo mich bereits der Leutnant, eine klein gewachsene Korporalin mit blondem Haar in ungefähr meinem Alter und ein merklich unsicherer junger Milizionär erwarten. Ich stottere eine Entschuldigung für meine kleine Verspätung, werde aber sogleich vom Leutnant unterbrochen. Dazu sei es zu spät und ich hätte entweder die volle Verantwortung für mein undiszipliniertes Verhalten zu tragen oder in mein Abteil zurückzukehren. Letzteres empfehle er dem verwöhnten Fräulein (schon wieder dieses Wort!) ohnehin. Bliebe ich, so hätte ich mich ohne Scham und Wehleidigkeit der peinvollen Prozedur zu unterziehen und dürfte mit keinerlei Gnade rechnen. Immerhin verspreche er mir, dass diese noch vor Mitternacht ihr Ende finden werde und dass meiner Gesundheit was nicht mit meinem leiblichen Wohl zu verwechseln sei ...
... Sorge getragen werde. Auch gevögelt erde ich an diesem Abend nicht. Ich könne jederzeit den Abbruch der Prozedur verlangen und hernach in mein Abteil zurückkehren, wobei mir selbstverständlich in diesem Fall unbesehen davon, ob ich mein Verlangen schon zu Beginn oder erst gegen Ende stellen werde - mein Reisepass und mein Visum erst nach der Ankunft in Irkutsk ausgehändigt würden.
Ich bin verwirrt. Was ist von dieser Umschreibung zu halten. Sie lässt vieles zu, auf das ich nicht eben erpicht bin. Angst und Neugier liegen im Widerstreit. Doch die Neugier siegt. So sage ich tapfer aber mit leicht brüchiger Stimme: Ich bleibe.
(3) Schön, du hast es nicht anders gewollt, antwortet der Leutnant, zieh dich aus! Das meint er wohl nicht im Ernst? Unsicher schaue ich zur Korporalin, welche sich mit ungerührter Miene Latexhandschuhe überzieht. Der Milizsoldat verzieht sein leicht gerötetes Gesicht zu einem unsicheren Lächeln. Ich sage leise: Nein, das mache ich nicht. Der Leutnant nimmt mich bei der Hand, geleitet mich zu einer ver-schlossenen Holztür, welche in den hinteren Teil des Wagens führt. Er öffnet mit dem Schlüssel, den er aus seiner Uniformjacke zieht, die Tür einen Spalt weit und heißt mich, einen Blick hinein zu werfen. Knapp anderthalb Meter hinter der Tür finden sich Gitterstäbe mit einer Gittertür. Hinter den Gittern liegen drei stoppelbärtige Männer auf Pritschen: ein Gefangenentransport. Der Leutnant fragt mich, ob ich eine Ahnung hätte, wann diese drei Herren ein ...