1. Transsib (1-3)


    Datum: 27.12.2019, Kategorien: Macht / Ohnmacht

    (Vorbemerkung: Die vorliegende Geschichte ist frei erfunden und gibt keine Unterstellung von \"üblichem\" Verhalten russischer Bahn- und Milizfunktionäre wieder.)
    
    Veronika ist eine rund 25 Jahre junge Studentin der osteuropäischen Geschichte an der Universität Jena, die allerdings im Westen, im Saarland aufgewachsen ist. Sie liebt die russische Sprache, versteht sie gut und spricht sie leidlich. Im letzten Sommer erfüllte sie sich einen lang gehegten Traum: die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Irkutsk am Baijkalsee und danach weiter durch die Mongolei bis nach Peking. Ich gebe Auszüge aus ihrem Tagebuch wieder:
    
    Donnerstag, 14. Juli 2005:
    
    (1) Vor 24 Stunden sind wir in Moskau in den Zug eingestiegen, der uns nach Irkutsk bringen soll. Zu unserm Erstaunen wurde unsere Gruppe nicht, wie bei Ausländern sonst üblich, in den roten \"Rossija\" (\"Russland\") Express oder in den blauen \"Baijkal-Express\" gesetzt, sondern in einen Zug mit älteren grünen Wagen sowjetischer Bauart. Wir sind die einzige ausländische Gruppe und ziehen darum das besondere Interesse der Mitreisenden und des Zugpersonals sowie leider auch der Eisenbahnmiliz auf uns. Soeben werden wir das dritte Mal seit unserer Abreise in Moskau von der Miliz kontrolliert.
    
    Ich äußere halblaut auf Deutsch zu meiner Sitznachbarin, kleine Machtdemonstratio-nen förderten wohl das Ego und vielleicht auch die Potenz uniformierter Kräfte. Sie zischt mir zu, ich solle das Maul halten. Ich ...
    ... lache, diese Milizionäre verstünden ja ohnehin kein Deutsch. Weit gefehlt: Mit einem feinen Lächeln wendet sich der Kom-mandant der Milizpatrouille, ein Leutnant, mir zu und meint in ausgezeichnetem, nur von einem leichten Akzent geprägten Deutsch, es sei ihm ein ganz besonderes Vergnügen, dem vorlauten Fräulein seine Macht zu demonstrieren. Der Reisepass und das Visum seien einstweilen eingezogen und könnten vom Fräulein auf der Milizstation des Bahnhofs Irkutsk abgeholt werden. Ich weiß nicht, ob der Kerl mich verscheißern will. Zur Sicherheit schweige ich. Dann beginnt der Leutnant breit zu grinsen und bietet mir an, schon heute um 18.00 Uhr Moskauer Zeit meine Papiere im Gepäckwagen abzuholen. Dies sei allerdings mit einem unzimperlichen und peinvollen Verhör verbunden. Doch dazu fehle dem Fräulein sicherlich die Courage. Ich hasse es, als \"Fräulein\" bezeichnet zu werden, und das ist nun innert einer Minute gleich dreimal geschehen. Entsprechend bin ich geladen. Außerdem lasse ich mir nicht so einfach meine Courage absprechen. Also kündige ich dem Leutnant ohne Nachzudenken mein Erscheinen zur genannten Stunde an. Er lächelt, wünscht einen schönen Nachmittag und freut sich auf unser Wiedersehen um 18.00 Uhr. Die Milizionäre verlassen das Abteil.
    
    (2) Mir wird flau im Magen. Auf was lasse ich mich ein? Die russische Reisebegleiterin gibt sich auf meine Fragen hin wortkarg. Sie habe schon von solchem gehört, Näheres wisse indes nicht. Zwei Mitreisende feixen, es sei der ...
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