1. Der Schlitz im Abendkleid


    Datum: 20.11.2019, Kategorien: CMNF

    Wie sehr hatte Kurt diesen Abend herbeigesehnt: Nach Monaten harter Arbeit an dem Staudammprojekt auf Madagaskar, in steter schwüler Hitze, die einem beim Verlassen des klimatisierten Hotels in Dar-Es-Salam schier den Atem raubte, mit feinem Schmutz überall, der aus den Körperfalten nicht herauszubürsten war, stand er jetzt vor dem Spiegel im geräumigen Hotelzimmer des Nassauer Hofs in Wiesbaden, um den korrekten Sitz seines Dinner Jackets zu überprüfen.
    
    In einer Stunde würde der Ball, zu dem seine Firma in jedem Jahr ihre besten Mitarbeiter einlud, beginnen. Seit zehn Jahren war dies der unbestrittene Jahreshöhepunkt für ihn. Viele Sprachen würden ihn erwarten - schließlich war sein Arbeitgeber weltweit engagiert. Nein, sie ließen sich nicht lumpen, die Männer von der Konzernspitze in Essen; noch aus den entlegensten Winkeln des Erdballs wurden die Erfolgreichen eingeflogen, in jedem Jahr an einen neuen Ort, stets aber in ein Hotel der allerersten Klasse.
    
    Entertainer der Spitzenklasse würden wie in jedem Jahr den Abend gestalten; Frank Sinatra und Ray Charles waren schon dagewesen. Diesmal standen Ute Lemper und eine englische Swing-Band auf dem Programm. Auch das Essen würde vom Besten sein; die Ente vom Lehel, das hauseigene Restaurant, gehörte seit Jahren zur Spitzengruppe deutscher Gastronomie. Kurt freute sich ungemein darauf, das in Afrika übliche lauwarme Importbier gegen Wein aus Burgunds Spitzenlagen eintauschen zu können.
    
    Erst heute vormittag ...
    ... war er mit der Linienmaschine der Lufthansa am Frankfurter Flughafen eingetroffen - wie üblich mit drei Stunden Verspätung, die durch einen Streik des Abfertigungspersonals bei der Zwischenlandung in Kairo verursacht worden war. Als er im Nassauer Hof eingecheckt hatte, führte ihn sein erster Weg ins Bad. Welch ein Hochgefühl war es, das heiße Wasser in vollem Strahl auf seinen sonnenverbrannten Rücken prasseln zu lassen. Nach dem Abduschen des Reisestaubs verschloß er den Auslauf der Wanne, gab noch ein wenig pflegende Essenzen hinzu und legte sich dann mit geschlossenen Augen in das Wasser. Aus dem Nebenraum tönte leise das Hotelradio mit einer Bruckner-Sinfonie.
    
    Erst als die Wassertemperatur merklich abgenommen hatte, endeten seine Träume. Leicht fröstelnd sprang er aus der Wanne und bereitete sich auf die Abendgala vor.
    
    Heute abend würde er sich nicht wieder verlieben, nahm er sich vor, während er in die Schuhe schlüpfte. Derlei vertrüge sich nicht mit seinem unsteten Leben, das ihn in jedem Jahr an andere Einsatzorte führte. Kurt hatte sich auf die schnelle, flüchtige Bekanntschaft eingestellt, die meist nach einigen Gläsern Hochprozentigem im Bett und am nächsten Morgen für immer endete. Bei den Bekanntschaften, die an einem solchen Abend geknüpft wurden, verhielt es sich anders: Meist waren die Frauen, die hierhin eingeladen wurden, nicht nur schön, sondern auch gescheit und anspruchsvoll. Für einen Quickie waren sie sich - zu Recht, wie Kurt meinte - zu ...
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