1. Der ehrliche Finder


    Datum: 06.10.2017, Kategorien: Reif

    Noch schnell vor dem Mittagessen Geld abheben, als Pensionist hat man ja jede Menge Stress!
    
    Ich suche die Bank im Ortszentrum auf, betrete das Foyer, gehe zum Bankomaten, mache meine Abhebung und sehe dann auf der Ablage eine Zip-Tasche. Oh, die muss jemand vergessen haben. Ich öffne diese und sehe eine Menge Scheine, eine Geldbörse und etliche Menge Belege. Aus der halb geöffneten Geldbörse sehe ich das farblich bekannte Design einer Bankomatkarte, offenbar ist der oder die Besitzerin Kunde der örtlichen Bank. Schnell schließe ich die Tasche und gehe zu dem einzigen besetzten Schalter und gebe die Tasche ab. Sicherheitshalber nenne ich der freundlichen Angestellten für Rückfragen Namen und Telefonnummer. Nachmittags ruft auf meinem Phone eine mir unbekannte Nummer an.
    
    Eine Frauenstimme fragt, ob ich der ehrliche Finder wäre und bedankt sich überschwänglich als ich dies bejahe. Auf die Frage, ob sie irgendetwas schuldig wäre, antworte ich entrüstet, dass solches Verhalten doch selbstverständlich ist. Trotzdem möchte sie sich aber unbedingt persönlich bei mir bedanken, und so lädt sie mich auf einen Kaffee zu sich ein.
    
    Die Adresse ist eine Ortschaft weiter, das Haus, blau weiß gefärbelt soll gleich links nach der Ortseinfahrt stehen, und ja, wenn ich Zeit habe, warum nicht gleich?
    
    Eine angenehme Stimme, ohne Akzent, ruhig, ein angenehmes Timbre, sicher nicht jugendlich, ich kann einfach nicht ablehnen.
    
    Na gut, Winterdienst rund ums Haus ist gemacht, sonst gibt ...
    ... es heute ohnehin nichts, und ein Tratsch kann nie schaden! Ab ins Auto, auf zur nächsten Ortschaft, ah ja, da ist es schon, das weiß-blaue Ziel. Klingle, eine Frau, etwas jünger als ich öffnet, und bittet mich nach kurzer gegenseitiger Vorstellung ins Haus.
    
    Als beinahe Eremit bin ich echt beeindruckt. Perfekt weibliche Figur, mittellanges dunkelblondes Haar mit grauen Einsprenkelungen, mauve-farbiger Mohairpullover, schwarze, weite Hose, Ballerinas. Im Wohnzimmer brennt im Kamin ein Holzfeuer, es ist bereits für den Kaffee aufgedeckt. Wie möchten sie den Kaffee? Schon wieder diese Stimme! Ich sehe mich um. Das Ambiente vermittelt mir eine gemütliche, gediegenen Wohlfühlatmosphäre. Nach kurzer Zeit kommt sie mit zweimal Espresso groß, schwarz ohne Zucker zurück.
    
    Im Laufe des Gesprächs erzählt sie von ihrem Missgeschick, dass sie Geld abgehoben hat und durch einen Anruf abgelenkt, die Tasche vergessen hat, also nochmals herzlichst danke! Ich fühle mich in ihrer Nähe wohl wie schon lange nicht, offenbar gilt das auch für sie, und so erzählen wir voneinander. Auch sie ist schon im Ruhestand, ungebunden und froh über jedes Gespräch, das über das alltägliche Leben hinausgeht, und wie sagte sie sinngemäß: eine gewisse Nahrung für's Gehirn bietet. Na ja, schön, danke für's Kompliment, dass sie einschätzt, in mir einen solchen Gesprächspartner gefunden zu haben. In der Zwischenzeit ist es draußen dunkel geworden, die Scheiter im Ofen sind niedergebrannt und die Glut leuchtet kaum ...
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