Fünf Minuten
Datum: 12.08.2020,
Kategorien:
Betagt,
Plötzlich bekam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie kümmerte sich nicht darum, konzentrierte auf die Musik, summte halblaut die Melodie mit, ihr ganzer Körper wog sich im Rhythmus, ließ sich von der Stimmung des Konzertes mitreißen, wie damals, in ihren jungen Jahren. Ja, sie hatte sich sogar fast gefühlt, wie eine Zwanzigjährige: sorglos, frei und leichtsinnig. Zusammengepfercht mit abertausend anderen Musikhörenden, von ihrem Mann, von den Freunden getrennt, nah dem Podium achtete sie nur auf die altbekannten Melodien. Karins Idee war es, das Nostalgie-Konzert ihrer Lieblingsgruppe zu besuchen, die Erinnerungen ihrer Studentenjahren wieder aufleben zu lassen. Die Idee fand großen Anklang, Karin wurde aufgetragen, die 10 Karten egal wie und zu welchem Preis zu besorgen. Jetzt sind sie hier, und jeder von ihnen versucht krampfhaft nicht zu merken, dass ein Großteil des Publikums kaum halb so alt ist, wie sie es sind.
Das Gefühl wurde immer stärker, fast schon störend, deshalb löste sie mit leichtem Widerwillen ihren Blick vom Podium, und begann ihre Umgebung abzutasten. Zwischen den hochgehobenen Händen entdeckte sie das verzückte Gesicht ihres Mannes, Karin sah sie mit rotem Gesicht das Lied mitzusingen, dann tauchten auch die anderen kurz in ihrem Blickfeld auf. Alle gaben sich der Musik hin, niemand achtete auf sie, ja sie schienen gar nicht zu merken, dass sie von ihnen weggeschwemmt wurde.
Dann entdeckte sie ihn plötzlich. Der Bursche war bestimmt zwanzig ...
... Jahre jünger als sie. Er stand seitlich, wenige Meter hinter ihr, auch wie sie, zur Rande der Menge gedrängt, und sah sie starr, eindringlich an. Als ihre Blicke sich trafen, fühle sie, als ob sie einen Stromschlag bekommen hätte. Forscher, fordernder Blick war das, zog sie förmlich nackt aus, ging ihr unter die Haut. Sie konnte ihren Blick von seinem nicht lösen. Unter seinem herrischen Blick verfehlte sie den Takt, ihr Körper spannte sich, ihre Augen wurden starr, und wie verhext verloren sich in seinen unwahrscheinlich tiefgrünen Augen.
Der Junge lächelte. Ein rechnender, siegreicher, wenig abwertendes Lächeln war das. Für eine Sekunde schloss er seine Augen, dann aber, bevor sie sich noch fangen konnte, waren sie wieder auf sie gerichtet, hypnotisierend, wie eine Schlange ihre Beute hypnotisiert, bevor sie verschlingt. Das war ein guter Vergleich, der Kerl schlängelte sich wie eine Schlange durch die Menschenmenge, sich langsam ihr nähernd, ohne seinen Blick von ihr zu wenden. Als er sie erreichte, stand er dicht hinter ihr, umklammerte sie und zog sie fest an sich, so dass die beiden Körper sich verschmelzen schienen. Wie im Trance fühlte sie seine Hände am Saum ihres leichten Sommerkleides, dann langsam unter dem Stoff an ihren Schenkeln hinauf zuwandern. Dann fühlte sie einen kleinen Biss an ihrem Hals, seitlich, gleich unter ihrem linken Ohr, an der empfindlichsten Stelle. Eine Hitzewelle durchströmte ihren Körper, und entsetzt stellte sie fest, dass sie schlagartig ...