1. Transsib (10 - 12)


    Datum: 06.07.2019, Kategorien: Macht / Ohnmacht

    Noch immer in Veronikas Tagebuch
    
    (10) Erzähle! fordert der Leutnant. Ich antworte, ich wüsste nicht, was es hier viel zu erzählen gebe. Vor einem halben Jahr Enthaltsamkeit hätte ich einfach wieder einmal das Verlangen verspürt, und es habe sich dann die Möglichkeit ergeben, mit einem Studienkollegen zu schlafen. Und vor drei Wochen hätte ich dies einem andern Kollegen geschuldet. Das Publikum wird hellhörig, verständlicherweise, und ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Wie blöd muss ich doch sein, solches hier zu offenzulegen. Es bleibt nichts anderes übrig, als zu erzählen, wie ich eine Seminararbeit an der Uni verbockt hatte und dann die zweite Fassung innert zweimal verlängerter Frist hätte verfassen und abliefern sollen, wie dies mir auf dem Magen lag und wie mir der besagte Studienkollege Hilfe angeboten habe, unter der Bedingung, dass er im Erfolgsfall einmal mit mir schlafen dürfe. Die Arbeit sei dann mit einer befriedigenden Zensur bewertet worden, womit die Erfolgsprämie fällig geworden sei. Es kommt Lachen auf. Die Korporalin fragt messerscharf, wie ich das nenne, wenn sich eine Frau für Gegenleistungen besteigen lasse. Ich bin jetzt kleinlaut und sage, so eine Art Prostitution sei das wohl schon. Aber immerhin sei mir der Kollege keineswegs zuwider gewesen, vielleicht hätten wir auch so miteinander geschlafen. Papperlapapp, du willst dich bloß rausreden, schneidet mir die Korporalin das Wort ab. Und diese unehrliche deutsche Dame will sich in ...
    ... Russland nicht zur Hure machen lassen! Ich schweige. Und einem Mann habe sich die Dame auch nie für Geld hingegeben. Ich werde rot, stottere und löse damit ein Nachfragen der Korporalin aus. Dann atme ich tief durch und gebe mit leiser Stimme zu, dass ich vor bald fünf Jahren, kurz nach Studienbeginn, als ich meine Finanzen noch nicht im Griff hatte und in einer massiven Geldnot steckte, tatsächlich einmal einen Gast ins Hotelzimmer begleitet und mich von diesem für 250 Mark habe vernaschen lassen.
    
    Also eine deutsche Kurtisane, fasst der Leutnant unter dem Gelächter des Publikums zusammen. Ich schäme mich, weiß nicht, wohin ich sehen soll. Jetzt würde ich mich gerne verstecken, mein Gesicht, aber auch meine Weiblichkeit verbergen. Aber das geht nicht, denn meine Hände sind noch immer auf den Rücken gefesselt. Der Leutnant fragt, weshalb ich vorher gelogen hätte. Ich erkläre, ich hätte mich damals vor fünf Jahren im Nachhinein sehr geschämt. Es sei schlimm gewesen und ich wollte, dass dies nicht die Veronika gewesen sei.
    
    (11) Nun habe das Publikum mich kennen gelernt, so dass zum zweiten Teil des Abends geschritten werden können: die Beurteilung des fehlbaren Subjekts, die Festsetzung korrigierender Maßnahmen und deren Ausführung. Zunächst wolle, so der Leutnant, man aber eine Pause von einer halben Stunde ansetzen, auf dass sich alle im Publikum Gedanken machen und das fehlbare Subjekt noch einmal genau betrachten könnten.
    
    Zunächst werden mir endlich die Handschellen ...
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