1. Durch die Hecke


    Datum: 18.05.2019, Kategorien: CMNF

    Eigenartig, was der Vormieter zu ihm gesagt hatte: "Schauen Sie nicht durch die Hecke." Zuerst hatte Gernot gar nicht darauf geachtet. Zuviel gab es zu beachten für den neuen Mieter, zu groß war auch die Freude, ein so hübsches Häuschen zu einem bezahlbaren Preis gefunden zu haben.
    
    In den ersten Wochen kam Gernot dann auch kaum aus dem Haus. Die Inneneinrichtung hatte Vorrang. Auch schien Martina den Garten als ihr Reich zu betrachten. Schon vor dem Einzug hatte sie begonnen, die neue Bepflanzung zu planen. Gernot ... für den Pflanzen allenfalls essbar, hübsch oder uninteressant waren ... wurde lediglich für Fahrten zur Gärtnerei und den Transport der Einkäufe benötigt. Doch so war es immer. Martina und Gernot Hunzelmann waren nun seit 22 Jahren verheiratet ... lange genug, um sogar einem knochentief harmlosen Menschen wie Gernot klar werden zu lassen, dass er wohl damals aufs falsche Pferd gesetzt hatte.
    
    Nicht, dass es damals wie ein falsches Pferd ausgesehen hatte. Martina war eine attraktive Frau, und sie hatte sich Figur und Ausstrahlung erstaunlich gut bewahrt. Sie war fast so groß wie er, vollschlank mit immer noch erkennbaren Kurven, kräftigen Schultern, Armen, Brüsten und Beinen und einem wilden, rotbraunen Haarschopf, den sie erst zu bändigen vermochte hatte, seit sie die Haare etwas kürzer trug.
    
    Eine Frage hatte Gernot sich selten gestellt und nie beantwortet: Warum hatte dieses Prachtweib ein halbes Hemd wie ihn geheiratet? Er war eher schmächtig und ...
    ... sicher kein Adonis. Sein ruhiges, gleichmütiges Wesen kannte keine Gefühlsausbrüche, und im Bett war er ... soweit er sich überhaupt erinnern konnte ... nie über ein unbeholfenes Anfängergezappel hinausgekommen. Mit über zwanzig Jahren im Beruf als Bauingenieur hätte er längst eine leitende Stelle einnehmen und daraus auch etwas Persönlichkeit gewinnen müssen. Doch das Leben war mit ihm nicht anders umgesprungen als seine Frau. Bei irgendeiner längst vergessenen Gelegenheit war er in eine Verwaltungsposition abgeschoben worden, die ihn von jeder Weiterentwicklung ausschloss. Die letzte Baustelle hatte er vor über zehn Jahren betreten; der Polier hatte ihn damals nur ausgelacht und wieder weggeschickt.
    
    * * *
    
    Beim Einzug war es Vorfrühling gewesen. Nun zeigten die Bäume, Hecken und Büsche in den Gärten bereits zarte, grüne Spitzen. Es war ein warmer Sonntagnachmittag, und Gernot weihte seinen neuen Liegestuhl ein. Dabei fiel ihm der ominöse Hinweis wieder ein. Welche Hecke hatte der Mann eigentlich gemeint? Gernot blickte sich um.
    
    Links grenzte das Grundstück an einen Fuß- und Radweg, der quer durch die Siedlung führte. Diese Hecke schied wohl aus. Die Hecke zum Nachbarn rechter Hand wirkte etwas zerrupft und war bestimmt kein Sichthindernis. Martina hatte bereits davon gesprochen, sie im Herbst durch neue Pflanzen zu ergänzen. Was sollte es dort auch zu sehen geben? Dort lebte ein Paar, das ihm und Martina in mancher Hinsicht glich ... ein paar Jahre jünger vielleicht und ...
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