1. Das Weinbacher Kaiserfest - Kapitel I


    Datum: 01.05.2018, Kategorien: CMNF

    Im Jahre 1485 machte Kaiser Friedrich III. auf seiner Reise durch das Reich in dem damals recht bedeutenden und wohlhabenden Städtchen Weinbach Station. Die Bürger bereiteten dem Herrscher einen feierlichen Einzug und hielten prächtige Feierlichkeiten zu seinen Ehren ab, bei denen die weltlichen Genüsse nicht zu kurz kamen. Die Zeitgenossen berichten von opulenten Gelagen, grandios inszenierten Spielen, und natürlich sollte dem Kaiser auch die Schönheit der Weinbacher Jungfrauen Vergnügen bereiten. Wie im Spätmittelalter nicht unüblich, geizte man dabei nicht mit nackter Haut, aber für die Mädchen galt es als große Ehre, den Kaiser in die Stadt geleiten oder in sogenannten "Tableaux Vivantes" - lebenden Bildern, in denen meist Szenen aus antiken Sagen nachgestellt wurden - vor ihm posieren zu dürfen.
    
    Dieses größte festliche Ereignis in ihrer Geschichte feiern die Weinbacher seit fast einem Jahrundert alle fünf Jahre durch eine möglichst originalgetreue Nachstellung der damaligen Ereignisse…
    
    "Schön, Frau Brandmüller. Sie sind wirklich sehr gut vorbereitet." Frau Dr. Richter, die Vorsitzende des Besetzungsausschusses, lächelte Sanne aufmunternd an.
    
    "Danke", sagte Sanne. "Ich bin ja auch schon ein Riesenfan von den Festspielen, seit ich so groß bin." Sie deutete eine Höhe von etwas mehr als einem Meter an. Mit sechs Jahren hatte sie zum ersten Mal den Umzug gesehen, seitdem wollte sie unbedingt dabei sein. Vor fünf Jahren war sie furchtbar enttäuscht gewesen, dass es ...
    ... nicht mit einer Kinderrolle geklappt hatte, aber dieses Jahr wurde sie sechzehn und kam damit schon für die ersten Erwachsenenrollen in Frage. Diesmal musste es unbedingt klappen, wer konnte schon sagen, ob sie mit 21 überhaupt noch in Weinbach wohnen würde.
    
    "Ich denke doch, für jemanden wie Sie werden wir ein schon ein Plätzchen finden." Frau Dr. Richters Lächeln verschwand wieder aus ihrem Gesicht, und sie sprach mit ruhigem Ernst weiter: "Nur noch eine Kleinigkeit... Sie wissen ja, dass wir allen Bewerberinnen, diese Frage stellen, und ich kann Ihnen versichern, es handelt sich nur um eine Formalität. Auch eine negative Antwort hat keinerlei Einfluß auf die Chancen ihrer Bewerbung, da können Sie sicher sein. Gerade Sie!"
    
    Frau Dr. Richter blickte wieder auf den Anmeldebogen. Sie nahm einen Stift zur Hand und stellte die Frage, die Sanne seit Monaten nervös machte.
    
    "Also... wären Sie gegebenenfalls bereit, auch bei den Tableaux Vivantes oder dem Jungfrauenspalier mitzuwirken, falls sich nicht genügend direkte Bewerberinnen dafür finden sollten?"
    
    Sanne hatte diese Situation bestimmt hundertmal im Kopf durchgespielt. Man sagte auf diese Frage nämlich nicht nein. Frau Dr. Richter konnte die offizielle Version erzählen so oft sie wollte, Tatsache war, dass ganz Weinbach wusste, dass man schlicht und einfach keine Rolle bekam, wenn man nein sagte. Gut, es gab wohl ein paar Ausnahmen, aber die konnte man an einer Hand abzählen. Sanne hatte geplant, ganz cool und souverän ...
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