1. Dr. Jekyll und Heidi Teil 01


    Datum: 10.03.2018, Kategorien: Romane und Kurzromane,

    ... anders genannt."
    
    „Und wie?" Sie lehnte sich zurück, sah mich aus ihren schmalen Augen skeptisch an.
    
    „Dämonen. Besessenheit."
    
    „Hm." Sie schob die Unterlippe vor, was bei ihr, wie ich später lernte, eher Nachdenklichkeit als Zweifel anzeigte.
    
    Ein anderer Tisch wollte bedient werden. Sie verließ mich mit einem knappen, entschuldigenden Schulterzucken. Ich blieb allein mit Buch und Kaffee zurück, versuchte die spürbare Leere zu ergründen, die dem Stuhl mir gegenüber plötzlich anhaftete.
    
    Später kam sie, um zu kassieren, weil ihre Schicht um sei. Der Regen trommelte noch immer gegen das Fenster. Ich fragte, ob sie einen Schirm habe. Sie meinte, es ginge schon. „Nichts da", beschied ich ihr, „ich bringe dich nach Hause." Wir einigten uns darauf, dass ich sie zur U-Bahn bringen durfte.
    
    Heidi hakte sich bei mir unter, damit wir beide unter den Schirm passten. Mit kleinen schnellen Schritten ging sie neben mir her, wich geschickt den Pfützen aus. Wie alles an ihr waren ihre Füße schmal und zierlich, ohne dabei zerbrechlich zu wirken.
    
    Wir unterhielten uns über Literatur, kamen auf Kafkas Roman ‚Der Prozess' zu sprechen, an dessen Ende die Hauptfigur von zwei Männern abgeführt wird, die sich bei ihr unterhaken.
    
    „Ich führe dich aber nicht ab", betonte ich vorsorglich.
    
    „Nein, nein", beruhigte sie mich lachend, „ich bin nur immer wieder beeindruckt, dass jemand etwas derart Schreckliches so schreiben kann, dass es gleichzeitig amüsant ist."
    
    „Kafka schrieb im ...
    ... Zeitalter des Stummfilms", erinnerte ich sie, „und so kann man auch viele seiner Geschichten lesen. Als ernsthaften Slapstick. Er schafft eine ironische Distanz zu seinen Figuren, indem er ihnen eine übertriebene Körperlichkeit verpasst. Sie wirken dann grotesk oder lächerlich, je nachdem, aber sie gewinnen eine enorme Intensität."
    
    „Ja." Heidi sah mir in die Augen. Lange. Sie schien sich zu fragen, was sie mit mir anfangen solle.
    
    „Schön, dich kennengelernt zu haben", sagte ich und meinte es auch so.
    
    „Danke fürs Bringen", sagte sie und zeigte kurz auf den Regenschirm.
    
    Ich sah ihr nach, wie sie die Treppe zur U-Bahn hinabging. Ihre langen Haare, irgendwo zwischen dunkelblond und brünett, wurden im Nacken durch eine Spange zusammen gehalten, ein Holzoval mit schöner Maserung. Sie trug eine schlichte weiße Bluse und eine leichte Khakihose, die eigentlich weit geschnitten war. Da sich der dünne Stoff aber in ihren Po geklemmt hatte, wurden die straffen Backen dennoch betont.
    
    Jedes Detail prägte sich mir ein, als ich ihr nachsah, wie sie im Dunkel des U-Bahnschachtes verschwand. Später stellte sich heraus, dass sie fast genau elf Jahre jünger als ich war, Anfang zwanzig. In dem Moment war sie für mich einfach eine schöne junge Frau, deren literarische Interessen einen Hang zum Fantastischen aufwiesen. Ich beschloss, sie wiederzusehen.
    
    Das Wetter blieb regnerisch, und so war auch an den kommenden Tagen im Café wenig los. Stets blieb ihr Zeit für einen Plausch mit ...
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